
Schreiben als Atemhilfe
Ich will nicht.
Ich kann nicht.
Ich werde nicht.
An das denken,
Was vor drei Jahren war.
Ich habe
Nichts Gehört.
Nichts Gesehen.
Nichts Gewusst.
Von dem, was nicht war.
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„HEEEEEYYYY, frohes neues Jahr!“, grölte mir Mark entgegen. „Auf das noch viele weitere folgen werden!“, entgegnete ich lachend und drückte ihn fest an mich. Silvester, ein Fest, das ich nie wirklich ganz verstanden habe. Warum feiern wir, dass die Zeit vergeht? Damit wir aus der Schnelllebigkeit des Alltags ausbrechen? Damit wir uns mehr auf das besinnen, was uns wirklich wichtig ist? Ich glaube das nicht so recht, denn wenn es so wäre, würde man sich keine Vorsätze machen. Ich meine, nicht, weil man sie in den meisten Fällen sowieso nicht einhält, sondern mehr, weil sie nicht nötig wären. Würden wir uns an Silvester darüber bewusstwerden, was unsere Ziele im Leben sind, welche Menschen uns was bedeuten und wer wir sein wollen, dann bräuchten wir keine Vorsätze um Taten sprechen zu lassen. Eben weil wir etwas Bewegen oder Ändern wollen. Und wenn dem so wäre, dann bräuchte man auch keinen Alkohol. Spoilerwarnung: Dem ist nicht so. Ganz und gar nicht.
Wieder zurück zu Mark, mir und dem Alkohol. Es war das erste Mal, dass ich nicht nur mit meiner Familie Silvester feierte, sondern mit Freunden. Mark und ich mögen uns, glaube ich, aber weil ich mir nicht ganz sicher war, hatte ich noch ein paar Freunde eingeladen. Die Stimmung war ausgelassen, die Korken knallten buchstäblich und ich war froh in ein neues Jahr zu starten.
In ein Jahr voller Überraschungen, voller Erfahrungen und voller Inspiration,
So dachte ich zumindest.
Der Bass war laut, Konfetti lag auf dem Boden und wir schrien. Zur Musik natürlich. Beim Schreien sollte es aber nicht bleiben, da wir den konfettibedeckten Boden zur Tanzfläche kürten. Wir tanzten, so als gäb´s kein Morgen mehr. Vielleicht sang Philipp Poisel uns auch in das neue Jahr, aber so recht erinnere ich mich nicht mehr. Ich hörte im Hintergrund, dass meine Eltern nach Hause gekommen waren, was mich verwunderte. Sie wollten eigentlich bei Freunden feiern und zwar bis zum Sonnenaufgang. Ich dachte mir nichts dabei, ging zum Kühlschrank, um unseren sinkenden Alkoholvorrat aufzufrischen, doch wurde enttäuscht. Die drei Weinflaschen und kaltgestellten Bierdosen, welche ich eigens gekauft hatte, waren nicht mehr da. Vielleicht hatten wir sie aber auch schon über den Abend getrunken. Wie dem auch sei, ich redete mir ein, dass wir genug Alkohol hatten, um Spaß zu haben und betrat wieder den Konfettiboden. Denn Konfetti heißt, man darf sich etwas Wünschen. Ein Konfettiboden heißt, man hat für einen kurzen Augenblick die Möglichkeit „wunschlos“ zu sein und was man dann daraus macht, bleibt einem selbst überlassen.
„Ich hab getanzt, ich hab geweint, ich hab geschrie'n vor Glück
Hol' der Teufel meine Seele ich will zu dir zurück
Ich hab getanzt als gäbs
Ich hab getanzt als gäbs
Ich hab getanzt als gäbs
Ich hab getanzt als gäbs kein Morgen mehr.“
Ich wollte tanzen und der Sänger Philipp Poisel half mir dabei. Draußen auf der Terrasse wurde auch getanzt, zumindest den Geräuschen nach. Immer im Beat vom Lied stampfte jemand auf und im Anschluss daran war ein Keuchen zu hören. Ein sehr erschöpftes, fast schon verzweifeltes Keuchen. Ich glaube diese Person sollte aufhören zu tanzen, es klingt sehr anstrengend. Ich kann es niemandem verübeln,
drinnen ist Tanzen auch anstrengend.
Ich beschloss meinen Konfettiboden mit Mark zu teilen. Ich wollte, dass auch er die Möglichkeit bekommt, wunschlos zu sein. Aber anstatt, dass er sich seine Wünsche erfüllte, tat er es mit meinen. Er nahm meine Hand und mein Herz tanzte mit.
Mark forderte mich zu einem Disco-Fox auf und ich war froh mal einen Tanzkurs belegt zu haben. Er war ein guter Tänzer, da er ganz genau wusste wie er mich zu führen hatte. Ich fühlte mich sicher und „gehalten“. Ich hatte das Gefühl, dass mir mit Mark an meiner Seite, nichts Schlimmes passieren konnte. Niemals. Mit dieser inneren Überzeugung tanzte ich. Ließ mich führen, in eine andere Welt entführen und war mit einem Mal ganz leicht. Ich schloss die Augen und befand mich in einer warmen Dunkelheit, die nur ab und zu von leuchtenden Fetzen aus Papier in rot, gelb, grün und blau unterbrochen wurde. Wenn ich die Zeit anhalten könnte, dann hätte ich es getan, denn dieser Moment war gut.
Die Sonne ging auf, fahles Licht schien durch die Fenster und mein Vater kehrte das Konfetti zusammen und schmiss es zu ein paar Holzscheiten, in den Ofen. Der Boden hatte kein Konfetti und auch keine Wünsche mehr. Die Musik war aus und meine Mutter war nicht da. Ich fragte meinen Vater, wo sie sei und er wich aus. Ich trank einen Orangensaft, weil mein Hals kratzte. Ich dachte an die Party, an meine Freunde und an Mark. Dann setzte sich mein kleiner Bruder an den Küchentisch, seine Augen waren gerötet. Er hätte vielleicht nicht so lange wach bleiben sollen. Mein Bruder und ich machten uns zurzeit gemeinsam das Leben schwer. Früher war das anders. Wir sind oft draußen gewesen, haben Wälder erkundet und uns Höhlen gebaut, die wir mit Moos und Blättern getarnt haben. Wir waren Geheimagenten. Unsere Walkie-Talkies waren stets unsere treuen Begleiter, auch wenn unsere Zimmer nur fünf Meter voneinander entfernt waren. Heute weiß ich nicht einmal, ob er gerade zuhause ist. Ich weiß auch nicht, wofür er sich begeistert, was seine Ziele sind oder was er erreichen möchte. Wenn wir nur unsere Walkie-Talkies noch hätten, wüssten wir bestimmt mehr voneinander.
Meine Mutter sah ich zwei Tage später wieder. Sie war müde, unausgeschlafen und schweigsam, alles in allem wirkte sie restverkartert. Ich akzeptierte das. Eltern haben auch ein Recht darauf Spaß zu haben und ab und an Alkohol zu trinken. Mein Vater zog daraufhin aus.
Auch dafür hatte ich Verständnis. Ich denke nicht, dass Paare, auch keine Ehepaare, zusammenbleiben sollten, nur weil sie Angst vor Veränderungen haben. Oder weil sie sich nicht umgewöhnen wollen. Oder weil sie sich fragen, was würden wohl die Nachbarn sagen?
Wie gesagt, ich respektiere ihre Entscheidung und finde es gut, dass sie meinem Bruder und mir keine Gründe oder ausschlaggebende Streitereien genannt haben. Es geht uns nämlich absolut nichts an, was zwischen unseren Eltern und mit ihrer Beziehung passiert. Wer weiß schon wie man zwischenmenschlich „richtig“ agiert? Ich finde, dass eine Partnerschaft mit einer anderen Person ganz viel Reflexion bedeutet. Selbstreflexion. Ich denke aber auch, dass Menschen erst dafür bereit sein müssen in eine so enge und sensible Beziehung mit einer anderen Person zu treten. Das kann Jahre dauern oder zumindest Erfahrungen. Ich weiß nicht, ob ich für sowas bereit wäre. Ich habe vor ein paar Wochen einen Song im Radio gehört und an einen Satz kann ich mich noch erinnern. Ich glaube, dass da etwas Wahres dran ist, aber eigentlich „glaube“ ich nicht.
„Nur wer sich trennen kann, ist frei“.
So begann also mein neues Jahr. Okay, denke ich. Ein bisschen anstrengend, aber sonst in Ordnung. Das einzige, was mich stört, sind die Nächte. Ich kann nämlich nicht gut schlafen. Ich wache oft auf, schweißgebadet und träume immer und immer wieder vom selben Abend. Vom Silvesterabend und dem Konfetti. Und dann ist da der Horizont, er steht Kopf und…Musik.
„Und der Himmel
Hat sich langsam gedreht
Hat sich langsam gedreht
Hat sich langsam gedreht…
Ich hab getanzt, ich hab geweint, ich hab geschrie´n vor Glück.“